Clara Fey und ihre Zeit

Um die Zeit zu verstehen, in der Clara Fey lebte, müssen wir geschichtlich noch etwas weiter zurückgehen.

Die Übernahme der Herrschaft durch Frankreich

clara_fey_sw1794 übernahmen die Franzosen in Aachen die Herrschaft für rund 20 Jahre.

Beiderseits des Rheins wurden jahrhundertealte Strukturen mit unterschiedlicher Intensität grundlegend umgestaltet. Die zahlreichen vormaligen Staatsgefüge des Alten Reiches wurden beseitigt, eine territoriale Neueinteilung mit einer straff gegliederten Verwaltung geschaffen. Die Justiz wurde neu geordnet, der Code Civil eingeführt, die Gesellschaft durch Aufhebung des Adels, Enteignung der Klöster und die Abschaffung der Abhängigkeitsverhältnisse sowie aller Feudalrechte umgeschichtet.

Dies sorgte für einen grundlegenden Wandel und leitete einen Modernisierungsschub ein. Aachen wurde Hauptort des Roer-Départements (1798). Die oberste Verwaltungsbehörde, die Zentralverwaltung erhielt ihren Sitz in Aachen. Ihr unterstanden 7 Bezirksverwaltungen für die Bezirke Maastricht, Geldern, Aachen, Bonn, Blankenheim, Limburg, Spa.

Wirtschaftlicher Aufschwung

1798 wurde durch ein Gesetz die allgemeine Gewerbefreiheit ausgesprochen und die Macht der Zünfte gebrochen, die bisher jede Modernisierung verhindert hatten. Dies führte zu einem Wiederaufblühen der Aachener Industrie. Um tüchtigen Fabrikanten leichtere Betriebsmöglichkeiten zu geben, überließ Napoleon ihnen für ein geringes Entgelt ehemalige Klöster, die säkularisiert worden waren und über die er damit verfügen konnte.

Coelestinerinnen

Durch Erlass vom 16. September 1804 wurde dem Fabrikanten Ignaz van Houtem das Gebäude der Coelestinerinnen zum Preis von 40.000 Francs verkauft, um Maschinen zur Vereinfachung und Vervollkommnung der Tuchfabrikation aufzustellen.

Im Jahr 1812 gab es in Aachen 93 Tuch- und Kaschmirfabriken und 98 Tuchmachermeister, die 1358 Stühle in Betrieb hatten und an Arbeitern 1378 Weber, 1672 Spinner, 635 Stopferinnen und Wollputzerinnen. Es gab 11 bis 13 Nadelmeister, die 833 Arbeiter beschäftigten.

Dieser Modernisierungsschub zog Menschen vom Land in die Stadt, die hofften, ein besseres Einkommen zu finden. 1804 zählte Aachen 23.699 Einwohner, 1816 schon 32.015. Für ledige war das Lohnniveau attraktiv, die Situation änderte sich, wenn eine Familie gegründet wurde, dann reichte der Lohn nicht aus. Daher wurde es zunächst als sozialer Segen empfunden, dass die neu entstandenen Fabriken durch Arbeitsteilung entstandene einfache Tätigkeiten anboten, die auch Frauen und Kindern ohne spezielle Ausbildung Verdienstmöglichkeiten boten.

aachen

Die neu nach englischem Vorbild eingerichtete Nadelfabrik des Laurenz Jecker wurde als soziale Errungenschaft belobigt, weil dort bei 250 Beschäftigten 225 Kinder im Alter von 4-12 Jahren beschäftigt werden konnten, die ihren Familien damit einen Beitrag zur besseren Versorgung ermöglichen konnten.

Selbst 1837 nach der Einführung der Schulpflicht durch Preußen lag die Kinderarbeit in den Tuchfabriken in Deutschland bei 62%. Die Kinder stellten also den größten Anteil der Belegschaft dar.

Die Betriebe lagen innerhalb der Stadt:

Bei 12-14-stündiger Arbeitszeit pro Tag betrug der durchschnittliche Wochenlohn eines Webers im Jahr 1830 6 Taler, 1840 3 Taler, 1845 2 Taler 12 Silbergroschen; der Wochenlohn eines 12-jährigen Kindes betrug 1830 20 Silbergroschen, 1840 nur noch 15 Silbergroschen.

Bevölkerungswachstum und Wohnungsnot

Durch die explosionsartige Zunahme der Bevölkerung gab es ein Überangebot an Arbeitskräften, dadurch wurde das Lohnniveau erheblich gedrückt. Frauen und Kinder mussten mitarbeiten, um die Familie ernähren zu können. Die geringe Entlohnung der Kinder ermöglichte es auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig zu bleiben.

Die Wirtschaftskrise in den 40er Jahren und der damit verbundene Produktionsrückgang hatte mehr als die Hälfte der in den Fabriken beschäftigten Arbeiter, Frauen und Kinder freigesetzt. Die städtische Armenkommission wurde vor schier unlösbare finanzielle Probleme gesetzt. Das wurde noch verstärkt durch die ein 1846 in ganz Europa herrschende Agrarkrise und der damit verbundenen
Hungersnot.

wohnungIn Aachen kam eine schon von den Zeitgenossen als katastrophal empfundene Wohnungsnot bei den ärmeren Schichten der Bevölkerung hinzu. Die innerhalb der alten Stadtwälle vorhandenen kleinen und eng gebauten Häuser stammten zumeist aus der Zeit nach dem großen Stadtbrand von 1656, sie waren für eine ganz andere soziale Schicht gebaut worden. Da sie aufgrund ihres Alters die billigsten waren, wurden sie von den Arbeitern bewohnt, obwohl sie den dort wohnenden Menschen keine menschenwürdige Unterkunft boten.

Die Aachener Regierung beklagte bereits 1831, dass durchschnittlich 13-14 Personen, in einzelnen Fällen sogar 200 Einwohner auf ein Haus kommen. Die Situation hat sich bis 1848 durch die weitere Zunahme an Einwohnern noch erheblich verschlechtert.

Der Arzt Dr. Heinrich Hahn, der die Armen oft in ihren Wohnungen aufsuchte, um sie zu behandeln schreibt:

Es sind die Fabrikstädte, die bevölkerten Zentren der Industrie und des Pauperismus, wo man am häufigsten den so sehr verderblichen Einfluss ungesunder Wohnungen auf die physische Entwicklung der Kinder zu beobachten Gelegenheit findet. Dort verfaulen gleichsam zahlreiche Familien in wenig geräumigen, oft feuchten oder dunklen, stinkenden Gelassen. Jede Familie hat nur ein Zimmer, welches zu allem dient, zur Küche und zur Wohnstube während des Tages und zum gemeinsamen Schlafzimmer für Eltern und Kinder. Die Eltern schlafen gewöhnlich auf einem elenden Lager, und die Kinder liegen hier und dort auf dem Boden ausgestreckt, oder höchstens auf einem Gebund Stroh. Wir waren mehr als einmal Zeuge einer solch traurigen Lage. Ja, wir haben bis zu drei Familien in einem einzigen Zimmer gesehen, in welcher Kreidestriche am Boden die Grenzen der drei Wohnungen bezeichneten.

Es war wohl auch den schlechten Wohnverhältnissen geschuldet, dass die 1832, 1833, 1837 – und später 1849, 1855 und 1856 – auftretende Cholera trotz aller getroffenen Gegenmaßnahmen sich energisch ausbreitete und vornehmlich bei den Armen viele Opfer forderte.

Neben der staatlichen Armenfürsorge waren es vor allem Katholische Kreise, die das Pauperismus – Problem erkannten und mit kirchlicher Karitas ihm entgegenzuwirken versuchten.

Zur Situation der Kirche unter der französischen Herrschaft

Ähnlich wie die geschichtlich gewachsene staatliche Gliederung zerschlagen und das Land nach französischem Vorbild in Départements u. a. aufgeteilt wurde, so zerstörte die antikirchlich eingestellte neue Obrigkeit auch die kirchliche Organisation. Die Zerschlagung der Adelskirche führte jedoch dazu, dass sich im Laufe der Jahrhunderte die Volkskirche bilden konnte, die wir jetzt schwinden sehen.

Die Beseitigung religiöser Zeichen aus der Öffentlichkeit (Bilder, Kreuze, Heiligenhäuschen sollten abgebrochen werden, auch die Kreuze auf den Kirchtürmen, keine öffentlichen Prozessionen waren gestattet, kein Gebrauch religiöser Zeichen in der Öffentlichkeit). Die Priester, die den Eid auf die als „Zivilverfassung“ bekannt gewordene Kirchenordnung verweigerten, wurden verfolgt.
Wer zuwider handelte wurde mit einer Geldstrafe von bis zu 500 Francs und Gefängnis von bis zu 10 Jahren bestraft. Diese Maßnahmen ließen zähen Widerstand in der Bevölkerung aufkommen und stärkten die Kirche.

Bei der Neugliederung der Kirche wurde für die rund 650.000 Katholiken der beiden neu eingerichteten Dépatements Roer und Rhein und Mosel eigens ein neues Bistum, das Bistum Aachen eingerichtet. Der erste Bischof von Aachen war Marc Antoine Berdolet.

Im Interesse einer guten Seelsorge mussten neue Pfarreien gegründet und alte neu umschrieben werden. Fast alle Ordensniederlassungen waren aufgehoben. 1802 wurde ein Domkapitel eingerichtet. Der Dom war nun Kathedrale glich aber in seiner Ausstattung einer „armen Dorfkirche“. 1804 und 1808 erfolgte eine Pfarrumschreibung. Die Aachener Diözese gliederte sich demnach in 80 Haupt- und
750 Hilfspfarreien.

Folgewirksamer war die Säkularisation, also die staatliche Einziehung geistlicher Besitzungen für weltliche Zwecke. Im Bistum Aachen brachte der Konsularbeschluss vom 9. Juni 1802 die Aufhebung aller geistlichen Institute und die Einziehung des geistlichen Eigentums zu Gunsten des Staates. Im Roer – Département waren 223 Institute von der Aufhebung betroffen, in Aachen zwei Stifte, sieben Männer- und 13 Frauenklöster. Ausgenommen waren in Aachen die Klöster der Christenserinnen, Elisabethinnen und die Beginen vom Stefanshof.

Die Mitglieder der säkularisierten Einrichtungen mussten innerhalb von zehn Tagen ausziehen und sollten unter bestimmten Bedingungen eine Rente erhalten. Viele Priester machten davon Gebrauch und übernahmen keine neue Aufgabe in der Seelsorge. 1812 zählte das Bistum Aachen rund 360 unbesetzte geistliche Stellen, aber 400 Pensionisten (Verfall der Klöster, Aufklärung Kloster unzeitgemäß).

Der landwirtschaftliche und immobile Besitz wurde verkauft. Auch vermögende Katholiken zögerten nicht zuzugreifen.

1814/1815 flohen die Franzosen. 1815 übernahm Preußen die Regierung in Aachen. 1825 wurde das Bistum Aachen wieder aufgelöst. Der Generalvikar des ehemaligen Bistums Aachen, Martin Wilhelm Fonck war es, der in Aachen die Grundlage für einen streng kirchlichen Katholizismus legte.

Von der Orientierungslosigkeit in den ersten Jahrzehnten nach dem Machtverlusterholte sich die Kirche in den 1840er Jahren, nachdem die 1830er Jahre von harten Auseinandersetzungen zwischen Kirche und preußischem Staat geprägt waren, die als Kölner Wirren Eingang in die Geschichtsbücher fanden. Vordergründig ging es um das Thema Mischehen. In der Tiefe ging es wohl um einen fundamentalen Streit um die neue Rolle der Kirche im Staat und um ihre Rechte. Die Säkularisierung war einerseits eine Verlustgeschichte, andererseits bot sie die Basis für eine neue Spiritualisierung der Kirche, die das Jahrhundert bestimmt. Auch die Herausbildung des neuen weiblichen Genossenschaftswesens muss als Teil der Zeitströmung betrachtet werden, die zu einer religiösen Neuorientierung führte. Der Regierungsantritt von König Friedrich Wilhelm IV. 1840 leitete einen Wandel im Verhältnis von Staat und Kirche ein.

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